Schweizer Judo-Pionier Hans Hartmann (8. Dan) gestorben

Nach einem reich erfüllten Leben ist der erste Ehrenpräsident des Schweizerischen Judound Ju-Jitsu-Verbandes (SJV), Hans Hartmann, nach kurzer Krankheit am 24. April 2002 in seinem Haus in Ennetbaden still entschlafen. In wenigen Monaten wäre er 97 Jahre alt geworden. 

Kaum ein Judoka lebte so intensiv nach den Grundsätzen von Jigoro Kano wie unser Ehrenpräsident. Hans Hartmann stand ein für ein ganzheitliches Judo und damit für eine ganzheitliche Förderung des Menschen. Er würdigte, pflegte und ehrte Kanos Werk als ein für uns übermachtes Kulturgut, das es zu erhalten gilt. Als Meister lehrte er: Treiben wir richtig Judo.

Er verhehlte dabei nicht, dass dies auch Entsagungen bedeuten kann. Doch dazu, so seine Meinung, sind wir durch unser Training befähigt. Als Frucht reifen wir dabei zu Persönlichkeiten, die im Leben Menschlichkeit verwirklichen und Wärme ausstrahlen. Am 28. Juli 1905 wurde Hans in Frankfurt a. M. geboren. Die Eltern von Hans Hartmann waren von Basel nach Deutschland gezogen. Als Kind besuchte er somit einen Teil der Schulen in unserem nördlichen Nachbarland. Darin liegt auch das Geheimnis, weshalb er bei Vorträgen in einem so ganz unschweizerischen, geschliffen Hochdeutsch referieren konnte. Jahre später übersiedelte die Familie wieder nach Basel, wo Hans 1924 den Maturabschluss machte und anschliessend mit dem Studium an der ETH in Zürich (Abt. Maschineningenieurwesen der Elektrotechnik) begann. Als dipl. El.-Ing ETH schloss er sein Studium ab. Nach Praktika und Assistentenjahre trat er 1930 als "Berechner" bei BBC in Baden (heute ABB) mit einem Monatslohn von Fr. 450.-- ein. Er arbeite sich zum Leiter der Messwandlerabteilung hoch. Als Ingenieur und Konstrukteur bereiste er die Welt, insbesondere die USA und Kanada. Noch heute gibt es elektrotechnische Produkte, deren Patente auf seinen Namen lauten. Kurz nach dem 40-jährigen Arbeitsjubiläum liess er sich 1970 pensionieren.

Allerdings war er danach noch mehrere Jahre als Vorsitzender und später auch als Berater ihm Rahmen von Engineeringstudien für den BBC-Konzern tätig. Mitten im zweiten Weltkrieg heiratete er seine Frau, die Walliserin Renne Morand; und ein paar Jahre später erblickte ihr einziges Kind, Pierre, das Licht der Welt. Schon von Kindsbeinen an war Sport die Leidenschaft von Hans. Leichtathletik, Turnen, Fechten, Ringen, Boxen, Schwimmen: die bekannten Sportarten der damaligen Zeit übte er aus. Später kam noch das Bergsteigen hinzu (vor allem in seiner geliebten Walliser Bergwelt). Während des Studiums absolvierte er auch Ausbildungen auf dem Gebiet des Sportes an der Militärwissenschaftlichen Abteilung der ETH.

Ab dem Jahre 1931 war er Leiter von Turngruppen und Ausbilder der Turnleiter des Verbandes zur Hebung der Volksgesundheit. Hans betrieb Sport nicht nur aus jugendlichem Leistungsstreben, sondern auch zur Verwirklichung einer gesunden körperlichen und geistigen Lebenshaltung. Den Sport empfand er aber auch als etwas Ästhetisches – und somit als "Körper-, Geist-, SeeleFitness" in einer Zeit als noch niemand solche moderne Slogans prägte. Als Kenner der Ernährungslehre und den Schriften (Lebensführung) des Dr. Bircher-Benner war für ihn eine gesunde ausgeglichene Ernährung stets entscheidend gewesen: für den Sport, für das Leben. 

1927 kam ein junger koreanischer Pharmaziestudent nach Zürich und lehrte die damals noch unbekannte japanische Sportart Judo. Dieser Student und spätere Dr. Hanho Rhi war eine faszinierende Persönlichkeit. Er hatte zum Ziel, verfeinertes und umfassendes Judo zu lehren und technisches Üben mit östlichem Geist zu vereinen. Im "Ju-Do" fand nun Hans Hartmann, was er immer im Sport gesucht hatte: nicht nur körperliche Ertüchtigung und damit verdientes Glücksgefühl, sondern auch das "Do" – den Weg zur persönlichen und allgemeinen Wohlfahrt, das ethische Element. Während des Zweiten Weltkrieges machte Hans Aktivdienst. Judo war schon zu Beginn des Krieges in den Militärischen Vorunterricht aufgenommen worden. 1949 gründete Hans Hartmann als 1. Kyu den Jiu-Jitsu und Judo-Club Baden (heute: Judo-Club Baden-Wettingen, JCBW). 

Vorher hatte er im Jiu-Jitsu und Judo-Club Zürich (JJCZ) trainiert. Er blieb Ehrenmitglied in diesem Club, welcher 1929 als erster Judo-Club der Schweiz gegründet wurde. 1952 machte er den 1. Judo-Dan unter Kawaishi in Paris. 1957 wurde er durch den Yoseikan zum 1. Dan Karate gradiert. 22 Jahre lang leitete er den JCBW als Präsident und Trainingsleiter. Danach wurde er Ehrenpräsident des Clubs. Bis zum 75. Altersjahr war er noch regelmässig und darüber hinaus sporadisch als Lehrer auf der Judomatte tätig. Er reiste in den 40er-, 50er- und 60er-Jahren durch Europa um Judo kennenlernen und üben zu können. Dabei genoss er Unterricht bei den ganz grossen Meistern dieser Pionierzeit: Koizumi in London (Mr. Gentle-Judo), Kawaishi in Paris, Abé in Belgien. 

Schon sehr früh war Hans Hartmann in verschiedensten Funktion national und international für das Judo tätig. So organisierte er 1951 den Schweizeraufenthalt einer hochkarätigen Delegation des Kodokan unter Leitung von Risei Kano (Sohn des Judobegründers). Einige Jahre später erwiderte er diesen Besuch als Verbandspräsident in Tokyo.

Hans empfing auch immer wieder Besuche von japanischen Lehrern und organisierte Kurse mit ihnen, u. a. mit Nakayama, Tashiro Daigo, Abé, Plee (aus Paris). Bekannt wurden dabei die ersten Sommerschulen in Mürren. Nachdem er vorher TK-Präsident des SJV gewesen war, wählte ihn die DV 1953 zum Verbandspräsidenten. Diese Amt hatte er sechs Jahre inne. Nach dem Rücktritt verdankten die Delegierten seine grossen Leistungen mit der Ehrenpräsidentschaft des Verbandes. Auch nach seinem Rücktritt war Hans immer und immer wieder für das Verbandswohl im Einsatz.

Nachdem sich 1946 der Verband infolge interner Differenzen in zwei Verbände aufteilte, organisierte er 1957 in Ennetbaden die erste gemeinsame Meisterschaft beider Verbände. Bald danach fusionierten unter seiner Mitwirkung diese sich konkurrierenden Sportorganisationen wiederzu einer Federation. Bis spät in die achtziger Jahre war Hans für das Judo tätig und spielte dabei immer eine führende Rolle. Oft wirkte er ganz im Stillen, und nur wenige wussten, was er für unseren Sport so nebenbei tat. Er sprach zum Beispiel bei Behörden und übergeordneten Stellen vor und setzte sein ganzes Renommee ein, um ein Anliegen zum Erfolg zu bringen.

Unter anderem war er 1976 Mitgründer des Aargauer Judo-Verbandes (AJV). Mit grossem Engagement setzte er sich in der Fachkommission für die Einführungsphase von Judo in J+S ein. Auch die Mitwirkung in der Ethikkommission war ihm, der Judo nicht nur als Kampf- und Verteidigungssport sah, von wichtigem Interesse. Hans Hartmann war für Konferenzen stets gut vorbereitet. Er war ein geschickter und - wenn es sein musste - auch ein harter Gesprächspartner. Zugute kamen ihm seine Mehrsprachigkeit und seine glänzende Rhetorik, die es Gegnern schwer machten, gegen ihn aufzukommen. Seine Überlegungen und Gedankengänge zogen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit ein.

Daher waren seine Argumente und Entscheide durchdacht und weitsichtig. Musste er sich einer Majorität anpassen, die nicht seiner Auffassung entsprach, hatte er aber auch die Grösse, einem Anerkennung zuzollen, wenn die Sache dann doch wider seiner ersten Besorgnis gut herauskam. 

Für und über das Judo hat Hans Hartmann viel geschrieben. So unter anderem die Bücher:

(1) JUDO –Technik, Methodik, Geist (zusammen mit Walter Graf), das die Grundlage für die ersten J+S-Unterlagen bildete;

(2) BUDO – SPORT – ETHIK

(3) ZENZITATE – ganzheitlich kommentiert. 

Am 24. Oktober 1998 verlieh der Schweizerische Judo und Ju-Jitsu-Verband (SJV) Hans Hartmann in Anerkennung seiner ausserordentlichen Verdienste für den Judosport den 8. Dan. Damit war er der höchst gradierte Schweizer Judoka.  Hans Hartmann verstand das Judo nicht nur umfassend, er war als Judoka aussergewöhnlich universell. Er war Praktiker, Lehrer, Naturwissenschaftler, Intellektueller und Philosoph in einem. Er schilderte und entwarf keine graue Theorie; Weltfremdheit und verschwommenen Mystizismus lagen ihm fern.

Sein Leitbild vermittelte er uns so: Die im Bewegungsspiel des Judo gewonnen Erfahrungen, Einsichten und Erkenntnisse soll der Ausübende innerlich verarbeiten und im täglichen Leben anwenden. Hans Hartmann war religiös. Seine theologischen Kenntnisse waren breit. Er verband die christliche Lehre mit derjenigen des Zen-Buddhismus. Seine unermüdliche Energie befähigte ihn, in die tieferen Geheimnisse des Seins einzudringen ("Das Eine in Allem und das All im Einen"). Doch erkannte auch er die Grenzen: "Wenn wir glauben, wir wüssten etwas, gibt es etwas, was wir nicht wissen." war eine seiner Zen-Weisheiten. Hans Hartmann ist nicht mehr. Die Schweizer Judo-Bewegung hat einen Wegbereiter und Vordenker verloren. In unseren Erinnerungen aber wird er weiterleben und auf unserem Weg-Gehen uns weiterbegleiten.